Die 24 Symptome dissoziativer Störungen
Die Symptome dissoziativer Störungen sind für geschulte Fachleute gut erkennbar, dennoch werden dissoziative Störungen häufig nicht erkannt. Dabei treten dissoziative Störungen sogar relativ häufig auf.
Über die Symptome dissoziativer Störungen besteht bei Fachleuten oftmals Unklarheit. Dieses vor allem aus zwei Gründen:
1. Dissoziative Störungen zeigen sich sehr unterschiedlich. Bei jeder betroffenen Person sind die jeweiligen Symptome verschieden (stark) ausgeprägt.
2. Es bestehen unterschiedliche Definitionen von dissoziativen Störungen. Die ICD-10, das Klassifikationssystem, nachdem alle Ärzte in Deutschland diagnostizieren müssen, beschreibt 13 dissoziative Störungen (Kapitel F44). Im amerikanischen Pendant DSM-5 sind nur 5 dissoziative Störungen definiert.
Die 24 Symptome dissoziativer Störungen nach Paul F. Dell
Paul F. Dell, ein amerikanischer Psychiater und Spezialist auf dem Gebiet der dissoziativen Störungen hat ein Konzept entwickelt, in dem sich alle dissoziativen Phänomene auf 24 dissoziative Symptome reduzieren lassen. Sein Konzept wird von vielen Fachleuten sehr geschätzt. Es wurde auch mehrfach als Grundlage für Überarbeitungen des DSM-5 herangezogen.
Ich selbst bin auch großer Befürworter des Konzeptes von Paul F. Dell. Meiner Meinung nach stellt es das beste Konzept für dissoziative Störungen dar. Es ist gut strukturiert und bildet alle möglichen dissoziativen Phänomene ab. Ein weiterer großer Vorteil sind die von Dell vorgeschlagenen Therapieansätze in Abhängigkeit der Ausprägung der dissoziativen Symptomatik. Würde das Konzept von Dell größere Verbreitung bei deutschen Psychiatern und Psychotherapeuten finden, würden dissoziative Störungen meiner Meinung nach deutlich besser diagnostiziert werden. Mit der richtigen Diagnose und einer entsprechenden Therapie lässt sich eine dissoziative Störung gut behandeln.
Dell unterteilt die Symptome dissoziativer Störungen in seinem Konzept in drei Kategorien, die A-, B- und C-Kriterien. Die Symptome sind im Folgenden nach Kategorie dargestellt und erläutert.
A-Kriterien:
Dissoziative Symptome des Gedächtnisses und der Wahrnehmung
(1) Amnesie
Eine Amnesie (siehe auch dissoziative Amnesie) äußert sich in Form von Gedächtnisproblemen und auffälligen Erinnerungslücken. Betroffene können sich teilweise an wichtige persönliche Ereignisse oder Lebensabschnitte nicht erinnern. Es können auch Amnesien an den vorherigen Tag oder bzgl. aktueller Ereignisse bestehen (Alltagsamnesien).
(2) Depersonalisation
Bei Depersonalisation bestehen Fremdheitsgefühle bzgl. der eigenen Person. Betroffene haben z.B. das Gefühl „neben sich zu stehen“ oder erleben sich als distanzierter Beobachter von sich selbst. Häufig besteht auch mangelnde Empfindungsfähigkeit. Empfindungen sind nicht oder kaum spürbar.
(3) Derealisation
Bei Derealisation besitzen die betroffenen Personen Fremdheitsgefühle bzgl. der Umgebung und anderer Menschen. Die Umwelt erscheint unreal, fremd, leblos oder fern. Betroffene beschreiben oft, das Umfeld würde ihnen wie hinter einer Scheibe erscheinen oder es fühle sich so an, als würden sie das Geschehen um sie herum wie einen Film betrachten.
(4) Flashback-Erleben
Flashbacks sind Nachhallerinnerungen von traumatischen Erfahrungen, die durch einen Schlüsselreiz ausgelöst werden. Die Flashbacks können von jeder Gefühlsart sein. Körperliche Flashbacks sind als Körpererinnerungen aus traumatischen Erlebnissen möglich.
(5) Somatoforme Dissoziation
Somatoforme Dissoziation kann sich in Form von unterschiedlichen körperlichen Symptomen zeigen (z.B. Konversionsstörungen). Hierzu gehören Schmerzen (insbesondere Kopfschmerzen und Schmerzen im Genitalbereich), Lähmungen (siehe auch dissoziativer Stupor) oder Schwierigkeiten beim Laufen (siehe auch dissoziative Bewegungsstörungen), Sprechen oder beim Wasser lassen. Ferner gehören hierzu auch Störungen der Wahrnehmung wie Tunnelblick, Blindheit, Taubheit oder Veränderungen von Hören, Schmecken und Riechen. Alle körperlichen Symptome sind dabei nicht durch körperliche Ursachen bedingt.
(6) Trancezustände
Von einer dissoziativen Störung betroffene Personen leiden oftmals unter Trancezuständen. Dabei tritt ein zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung auf.
> siehe auch Trance- und Besessenheitszustände (F44.3 ICD-10)
B-Kriterien:
Anzeichen für das Vorhandensein teilweise abgespaltener Selbstzustände
(7) Hören von Kinderstimmen
Betroffene nehmen Kinderstimmen wahr, die sprechen, schreien oder weinen. Die Stimmen kommen dabei nicht von außen, sondern befinden sich innerhalb des Kopfes.
(8) Innere Dialoge oder Streitgespräche
Es finden innere Dialoge und Streitgespräche statt. Es kann sich so anfühlen, als besäße man unterschiedliche Meinungen zu einem Thema.
(9) Herabsetzende oder bedrohende innere Stimmen
Betroffene erleben innere Stimmen, die sie herabsetzen, beschimpfen oder bedrohen.
(10) Teil-dissoziiertes Sprechen
Das sprechen wird zeitweise als nicht zu sich gehörig erlebt. Man hört sich selbst sprechen, hat jedoch das Gefühl, nicht derjenige zu sein, der spricht.
(11) Teil-dissoziierte Gedanken
Eingebende, sich aufzwingende Gedanken. Gedanken scheinen aus dem Nichts zu kommen. Auch Gedankenentzug ist möglich.
(12) Teil-dissoziierte Emotionen/ Gefühle
Gefühle werden als aufgedrängt oder eingegeben und als nicht zu sich gehörig erlebt.
(13) Teil-dissoziiertes Verhalten
Handlungen werden als nicht unter der eigenen willkürlichen Kontrolle erlebt. Es scheint so, als seien Handlungen aufgedrängt oder von einer anderen Person ausgeführt. Hierzu gehören auch auffallende Veränderungen der Handschrift.
(14) Zeitweise dissoziierte Fertigkeiten oder Fähigkeiten
Es findet ein plötzlicher Wechsel im Funktionsniveau statt. Betroffene „vergessen“ zum Beispiel wie man Auto fährt, Computer bedient oder liest. Es kann auch das eigene Alter, der eigene Name oder die Wohnanschrift vergessen werden.
(15) Irritierende Erfahrungen von verändertem Identitätserleben
Wiederholte Erfahrungen, sich wie eine andere Person/ eine andere Identität zu fühlen oder zu handeln. Zum Beispiel wie ein kleines Kind oder eine Person mit ganz anderen Ansichten und Wertvorstellungen.
(16) Identitätsunsicherheit
Aufgrund wiederholter ich-fremder Gedanken, Einstellungen, Verhaltensweisen, Gefühle, Fertigkeiten, etc. entsteht eine Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität.
(17) Vorhandensein teil-dissoziierter Selbstzustände
In der Untersuchungssituation (z.B. im Therapie-Gespräch) tritt ein teil-dissoziierter Selbstzustand auf, der angibt, nicht die zu untersuchende Primärperson zu sein. Anschließend besteht jedoch keine Amnesie der Primärperson.
C-Kriterien:
Anzeichen für das Vorhandensein vollständig abgespaltener Selbstzustände
(18) Wiederholte Amnesien für das eigene Verhalten
Es besteht ein lückenhaftes Zeiterleben mit Erinnerungslücken von zwei Stunden oder mehr. Betroffene „kommen zu sich“ und sind dabei eine Handlung auszuführen, ohne sich bewusst gewesen zu sein, dieses zu tun. Es kann auch zu Fugues kommen: plötzliche und unerwartete Ortswechsel ohne dies bewusst entschieden zu haben und ohne sich an die Reise erinnern zu können.
(19) Rückmeldung von anderen über nicht erinnerbares Verhalten
Vertrauenswürdige Personen aus dem Umfeld berichten einem von eigenem Verhalten, an das man sich nicht erinnern kann. Es besteht vollständige Amnesie für dieses Verhalten.
(20) Vorfinden von „fremden“ Dingen in seinem Besitz
Man findet Dinge in seinem Besitz, an dessen Erwerb man sich nicht erinnern kann.
(21) Eigene Notizen oder Zeichnungen, an dessen Anfertigung man sich nicht erinnern kann
Betroffene finden Notizen oder Zeichnungen in ihrem Besitz, die sie selbst angefertigt haben müssen, an dessen Anfertigung sie sich jedoch nicht erinnern können.
(22) Hinweise von kürzlich ausgeführten Handlungen, an die man sich nicht erinnern kann
Man findet Hinweise von kürzlich ausgeführten Handlungen (z.B. andere Kleider tragen, eine Mahlzeit beendet haben), kann sich jedoch an die Handlungen nicht erinnern.
(23) Entdecken von Selbstverletzungen oder Suizidversuchen, an die man sich nicht erinnern kann
Betroffene entdecken Selbstverletzungen oder gar Suizidversuche, können sich jedoch nicht an deren Ausführung erinnern.
(24) Vorhandensein voll-dissoziierter Selbstzustände
In der Untersuchungssituation (z.B. im Therapie-Gespräch) tritt eine voll-dissoziierter Selbstzustand auf, der angibt, nicht die zu untersuchende Primärperson zu sein. Anschließend besteht eine Amnesie der Primärperson.
Fazit
Solltest du dich in einigen der oben beschriebenen Symptomen wiederfinden, besteht die Möglichkeit, dass eine dissoziative Störung bei dir vorliegt. Wenn du noch keine entsprechende Diagnose hast, ist es ratsam, sich an einen Psychiater oder Psychotherapeuten zu wenden, der sich mit Dissoziation und der Behandlung von dissoziativen Störungen gut auskennt. Dissoziative Störungen lassen sich mit einer spezifischen Therapie gut behandeln.
Je mehr der Symptome auf dich zutreffen, desto wahrscheinlicher ist das Vorliegen einer dissoziativen Störung.
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