Dissoziative Fugue

Dissoziative Fugue

Die dissoziative Fugue ist eine psychische Erkrankung, bei der Betroffene plötzlich und unerwartet von zu Hause oder vom Arbeitsplatz weggehen. Dabei können sie sich an die gesamte oder Teile der Vergangenheit nicht erinnern. Die Krankheit gehört zur Gruppe der dissoziativen Störungen.

Krankheitsbild und Symptome der dissoziativen Fugue

Menschen, die von einer dissoziativen Fugue betroffen sind, verlassen plötzlich und unerwartet, aber in äußerlich geordnet erscheinender Weise ihr zu Hause oder ihren Arbeitsplatz. Dabei können Sie sich nicht mehr an ihre gesamte oder Teile ihrer Lebensgeschichte erinnern.

Die plötzliche Flucht entsteht nicht aus Reise- oder Abenteuerlust, sondern ist vom Willen des Betroffenen unabhängig. Während der Fugue besteht bei den Betroffenen eine Unsicherheit darüber, wer sie sind (Identitätsunsicherheit). Teilweise nehmen Betroffene während der Fugue sogar eine neue Identität an.

Eine dissoziative Fugue kann von wenigen Stunden bis hin zu Monaten andauern. Bei längeren Wanderungen können Betroffene tausende von Kilometern reisen und zahlreiche nationale Grenzen überschreiten. Während einer dissoziativen Fugue verhalten sich die Betroffenen in der Regel unauffällig. Auffällig werden sie meistens erst, wenn sich der Gedächtnisverlust und die Unsicherheit bzgl. der eigenen Person bemerkbar machen oder die Fugue endet.

Teilweise kommt es vor, dass Betroffene während der Fugue eine neue Identität annehmen. Dieses äußert sich zum Beispiel in einem neuen Namen oder durch den Bezug einer neuen Wohnung. Die neue Identität ist meistens geselliger und weniger zurückhaltend als die frühere Identität.

Betroffene können sich mit der neuen Identität in der Regel in komplexen sozialen Aktivitäten engagieren und gut sozial integriert sein. Aus diesem Grund bemerken Außenstehende selten die vorliegende dissoziative Störung. Das Herausbilden einer neuen Identität kommt bei der dissoziativen Fugue jedoch relativ selten vor. Häufiger besteht eine Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität.

Nach der Fugue-Episode kommen die Erinnerungen für die Zeit vor der Fugue meistens vollständig zurück. Es besteht jedoch in der Regel eine Amnesie für die Zeit während der Fugue. Betroffene wissen nicht, was während der Fugue-Episode passiert ist. Die Amnesie für die Zeit während der Fugue ist prinzipiell reversibel, d.h. die Erinnerungen können zurückkommen – beispielsweise im Rahmen einer spezifischen Psychotherapie.

Auch kann es nach der Fugue zu zahlreichen psychischen Begleiterkrankungen und Symptomen kommen, wie zum Beispiel Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Dysphorie, Trauer, Scham- und Schuldgefühle. Ferner können psychosoziale Probleme wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder Konflikte mit Familienangehörigen und Freunden auftreten.

Betroffene können auch von suizidalen und aggressiven Impulsen heimgesucht werden. Die Probleme, die nach einer dissoziativen Fugue auftreten sind tendenziell schwerwiegender, je größer das Ausmaß und die Dauer der Fugue waren.

Dissoziative Fugue – ICD-10 und DSM-5

In der ICD-10 und im DSM-5 ist die dissoziative Fugue jeweils unter den dissoziativen Störungen klassifiziert. In der ICD-10 ist sie unter dem Code F44.1 vorzufinden. Im DSM-5 ist die dissoziative Fugue der dissoziativen Amnesie untergeordnet (bis zum DSM-IV war die dissoziative Fugue noch eine eigenständige Erkrankung). Liegt eine dissoziative Amnesie mit Fugue vor, wird der Code 300.13 verwendet. Der Code für eine dissoziative Amnesie ohne Fugue ist 300.12.

Häufigkeit

Schätzungen zufolge beträgt die Häufigkeit der dissoziativen Fugue 0,2% bezogen auf die Allgemeinbevölkerung. In Deutschland sind somit schätzungsweise circa 160.000 Menschen von dissoziativer Fugue betroffen.

Ursachen

Eine dissoziative Fugue wird in der Regel durch traumatische Erlebnisse oder extrem belastende Ereignisse verursacht. Die dissoziative Fugue kann als eine Art unterbewusst gesteuerte Flucht vor überwältigenden Lebensumständen verstanden werden.

Diagnose

Die dissoziative Fugue wird selten während der Fugue erkannt, da die Betroffenen sich in der Regel unauffällig verhalten. Meistens wird die Störung erst dann diagnostiziert, wenn die Betroffenen plötzlich zu Ihrer Identität vor der Fugue zurückkehren und darunter leiden, dass sie sich in ihnen unvertrauten Umständen wiederfinden und keine Erinnerungen an die Zeit während der Fugue haben.

Für die Diagnose der dissoziativen Fugue müssen die folgenden vier Kriterien erfüllt sein:

Kriterium A:

Das vorherrschende Störungsbild ist ein plötzliches, unerwartetes Weggehen von zu Hause oder vom gewohnten Arbeitsplatz, verbunden mit der Unfähigkeit, sich an seine Vergangenheit zu erinnern.

Kriterium B:

Verwirrung über die eigene Identität oder die Annahme einer neuen Identität (teilweise oder vollständig).

Kriterium C:

Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer dissoziativen Identitätsstörung (auch Multiple Persönlichkeitsstörung genannt) auf und geht nicht auf die direkte körperliche Auswirkung einer Substanz (z.B. Alkohol, Drogen und Medikamente) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (z.B. Epilepsie).

Kriterium D:

Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Differenzialdiagnose

Bei der Diagnose der dissoziativen Fugue sind folgende Differenzialdiagnosen zu berücksichtigen:

  • Organische Ursachen: Organische Ursachen, wie zum Beispiel Kopfverletzungen, können zu ähnlichen Symptomen führen. Diese sollten durch Laboruntersuchungen und körperliche Untersuchungen ausgeschlossen werden.
  • Epilepsie / Anfallsleiden: Betroffene von Epilepsie können ebenfalls Wanderungen und nur teilweise zielgerichtetes Verhalten aufweisen, für die danach ebenfalls eine Amnesie besteht. Die epileptische Fugue ist jedoch zusätzlich gekennzeichnet durch eine Aura (Sinneswahrnehmungen, die einen epileptischen Anfall ankündigen), motorische Auffälligkeiten, stereotypes Verhalten und Wahrnehmungsveränderungen. Ferner sind bei der epileptischen Fugue Abweichungen im EEG (Elektroenzephalogramm) zu erkennen.
  • Substanzmittelbedingte Störungen: Durch Substanzmittelmissbrauch (Alkohol, Drogen und Medikamente) können ebenfalls „Blackout“-Episoden entstehen, für die keine Erinnerungen existieren. Substanzmittelbedingte Amnesien lassen sich von der dissoziativen Fugue am besten unterscheiden, in denen der Zusammenhang von Substanzmitteleinnahme und Amnesien untersucht wird. Treten die Amnesien im Zusammenhang mit der Substanzmitteleinnahme auf, ist eine substanzmittelbedingte Amnesie wahrscheinlich.
  • Dissoziative Identitätsstörung: Tritt die Fugue im Zusammenhang einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) auf, so ist die dissoziative Fugue nicht als eigenständige Diagnose zu vergeben.
  • Andere dissoziative Störungen: Wenn während der dissoziativen Fugue Depersonalisationssymptome oder Amnesie auftreten, sind diese nicht als Depersonalisations-/ Derealisationsstörung und dissoziative Amnesie zu diagnostizieren. Die Diagnose der dissoziativen Fugue ist ausreichend.
  • Manie / Bipolare Störung: Während einer manischen Episode können Betroffene ebenfalls umherwandern und Amnesien für die eigene Lebensgeschichte aufweisen. Manische Episoden sind jedoch aufgrund von Größenideen und anderen manischen Symptomen auffällig und von der dissoziativen Fugue zu unterscheiden. Personen, die sich in einer manischen Episode befinden, erregen durch ihr unangemessenes Verhalten häufig Aufmerksamkeit. Bei manischen Episoden kommt es nicht zur Annahme einer neuen Identität.
  • Schizophrenie: Auch bei der Schizophrenie kann es zum Umherwandern kommen. Ferner können von Schizophrenie Betroffene aufgrund der Störung Schwierigkeiten besitzen, Erinnerungen angemessen zu beurteilen und auszudrücken. Die Schizophrenie lässt sich jedoch aufgrund von spezifischen Merkmalen (z.B. Wahn, Halluzinationen, Negativsymptome einer Schizophrenie) von der dissoziativen Fugue unterscheiden.
  • Neurokognitive Störungen: Bei neurokognitiven Störungen (z.B. Delir, Demenz) können ebenfalls Amnesien auftreten. Diese sind jedoch eingebettet in ein weit umfassendes Muster kognitiver, sprachlicher, affektiver, aufmerksamkeitsbezogener, wahrnehmungs- und verhaltensbezogener Störungen. Bei der dissoziativen Fugue sind die kognitiven Fähigkeiten im Allgemeinen erhalten.
  • Simulation: Personen, die rechtlichen, finanziellen oder persönlichen Schwierigkeiten entgehen wollen, können eine dissoziative Fugue simulieren. Aus diesem Grund sollte bei der Differenzialdiagnostik auch immer eine mögliche Simulation in Betracht gezogen werden.

Therapie

Für Betroffene von dissoziativer Fugue ist Psychotherapie das Mittel der Wahl. Die Therapie sollte dabei nur von Therapeuten durchgeführt werden, die über ausreichende Erfahrungen im Bereich der dissoziativen Störungen verfügen.

Im Fokus der Therapie sollten die Arbeit an den Auslösern der dissoziativen Fugue sowie die Verbesserung der Affektwahrnehmung und Affekttoleranz stehen. Betroffene sollen lernen, mit den überwältigenden Erlebnissen, die zur dissoziativen Fugue geführt haben, umzugehen. Darüber hinaus sollte eine Therapie zum Ziel haben, die fehlenden Erinnerungen während der Fugue wiederherzustellen. Häufig ist dieses jedoch nicht erfolgreich.

Dissoziative Fugue (Symptome, Ursachen, Diagnostik, Therapie) - posttraumatische-belastungsstörung.com

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