Dissoziative Krampfanfälle
Dissoziative Krampfanfälle (auch dissoziative Anfälle genannt) sind psychogene Anfälle, die epileptischen Anfällen sehr ähneln. Die dissoziativen Krampfanfälle gehören zum Spektrum der dissoziativen Störungen.
Dissoziative Krampfanfälle – Symptome und Krankheitsbild
Dissoziative Krampfanfälle weisen eine große Ähnlichkeit zu epileptischen Anfällen auf, jedoch gibt es einige Merkmale, in denen sie sich zu epileptischen Anfällen unterscheiden. Bei den dissoziativen Krampfanfällen treten selten die für epileptische Anfälle typischen Symptome Zungenbiss, Verletzungen beim Sturz oder Einnässen (Inkontinenz) auf. Zusätzlich verlieren Betroffene von dissoziativen Krampfanfällen während des Anfalls nicht das Bewusstsein, stattdessen kommt es teilweise zu stupor– oder tranceähnlichen Zuständen.
Dissoziative Krampfanfälle sind individuell sehr unterschiedlich, vor allem bezüglich Häufigkeit und Dauer der Anfälle und des Erscheinungsbildes. Die dissoziativen Anfälle kennzeichnen sich zum Beispiel durch krampfartige Zuckungen, verrenkungsähnliche Bewegungen, Überstreckungen des Kopfes, Grimassierungen oder schüttelnde Bewegungen der Arme, Beine oder des Kopfes. Nach einem Anfall besteht nur eine bruchstückhafte oder keine Erinnerung an den Anfall.
Die dissoziativen Krampfanfälle gehören zur Gruppe der dissoziativen Störungen, d.h. die Anfälle unterliegen nicht der bewussten Kontrolle der Betroffenen sondern sind eine unterbewusst gesteuerte, unfreiwillige Reaktion auf überfordernde emotionale Belastungen.
Je nach Häufigkeit und Ausprägung können die dissoziativen Krampfanfälle die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Darüber hinaus nehmen Betroffene die Anfälle oftmals als beängstigend und beschämend wahr. Viele Betroffene haben Mühe anzuerkennen, dass die dissoziativen Anfälle psychogen, d.h. psychisch bedingt sind.
Weitere Bezeichnungen
In Publikationen treten dissoziative Krampfanfälle auch unter folgenden anderen Bezeichnungen auf:
- Dissoziative Anfälle
- Psychogene Anfälle
- Nichtepileptische Krampfanfälle oder Anfälle
- Pseudo-epileptische Anfälle
- Nichtepileptische Attacken
- Pseudoanfälle
- Hysterische Anfälle
- Funktionelle Anfälle
Häufigkeit dissoziativer Krampfanfälle
Dissoziative Krampfanfälle kommen relativ selten vor. Nur 2-3 von 10.000 Menschen leiden unter dieser Erkrankung. Mit 70% sind überwiegend Frauen von dissoziativen Krampfanfällen betroffen. In der Regel tritt die Krankheit erstmals nach der Pubertät auf.
Ursachen
Viele Menschen, die unter dissoziativen Krampfanfällen leiden, haben ein Trauma erlebt. Die Traumatisierungen können schon sehr lange zurückliegen und müssen nicht zwangsläufig erinnerbar sein. Oft wird von Betroffenen berichtet, dass sie während der dissoziativen Anfälle flashbackartige Erlebnisse haben, z.B. Erinnerungen an ein Trauma oder Albträume.
Auch sehr schwierige Lebenssituationen sind als Ursache für dissoziative Krampfanfälle möglich, z.B. ungewöhnlich starke und ausweglos erscheinende Konflikte in der Familie oder am Arbeitsplatz.
Diagnose und Differenzialdiagnostik
Dissoziative Krampfanfälle sind nicht einfach zu diagnostizieren und schwer von epileptischen Anfällen zu unterscheiden. Aus diesem Grund erhalten viele Betroffene zunächst die falsche Diagnose „Epilepsie“. Die standardmäßige Behandlung von epileptischen Anfällen mit Antiepileptika hat bei dissoziativen Krampfanfällen keine positiven Auswirkungen. Nicht erfolgreich behandelbare epileptische Anfälle sind in 20-30% der Fälle in Wahrheit verkannte dissoziative Anfälle. Im Schnitt vergehen bei dissoziativen Krampfanfällen sieben Jahre bis zur richtigen Diagnose.
Im Wesentlichen unterscheiden sich die Merkmale von dissoziativen zu epileptischen Krampfanfällen wie folgt:
- Bei dissoziativen Krampfanfällen bleiben die Betroffenen während des Anfalls bei Bewusstsein.
- Der Beginn und das Ende von dissoziativen Krampfanfällen verlaufen allmählich, wohingegen epileptische Anfälle plötzlich auftreten.
- Die Intensität des Anfalls ist bei dissoziativen Krampfanfällen oftmals beeinflussbar, beispielsweise Verstärkung der Symptome durch Ansprechen der Person.
- Bei dissoziativen Anfällen sind die Augen meistens geschlossen. Manchmal sind jedoch auch weite, nicht auf Licht reagierende Pupillen vorhanden.
- Dissoziative Krampfanfälle dauern größtenteils länger als epileptische Anfälle, die in der Regel nur 3-5 Minuten andauern.
- Betroffene von epileptischen Anfällen sind nach den Anfällen völlig desorientiert bzw. am Schlafen. Dieses ist bei dissoziativen Anfällen in der Regel nicht der Fall.
- Die Zuckungen bei dissoziativen Krampfanfällen sind eher asynchron und arrhythmisch.
Differenzialdiagnose mit EEG
Durch Video-EEG-Monitoring (EEG = Elektroenzephalographie) kann mit nahezu vollständiger Sicherheit eine Epilepsie ausgeschlossen werden. Die Betroffenen werden dabei während den Anfällen gefilmt und deren elektrische Gehirn-Aktivitäten gemessen. Im Unterschied zu epileptischen Anfällen treten bei dissoziativen Krampfanfällen keine Auffälligkeiten im EEG auf.
Diagnose nach ICD-11
Im aktuell gültigen Diagnosehandbuch ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation WHO sind die dissoziativen Krampfanfälle unter den dissoziativen Störungen klassifiziert und unter dem Code 6B60.4 (Dissoziative Störung mit neurologischen Symptomen: nichtepileptischer Anfall) vorzufinden.
Therapie dissoziativer Krampfanfälle
Bei dissoziativen Krampfanfällen ist Psychotherapie das Mittel der Wahl. Die Therapie sollte dabei von Therapeut:innen durchgeführt werden, die ausreichende Erfahrungen im Bereich der dissoziativen Störungen besitzen.
Unterschiedliche Therapieformen sind für die Behandlung dissoziativer Krampfanfälle möglich. Die Art der Therapie sollte davon abhängig sein, wie ausgeprägt die dissoziative Symptomatik ist (siehe hierzu auch Die 24 Symptome dissoziativer Störungen). Bei einfachen dissoziativen Störungen ist die Arbeit an den Auslösern sowie die Verbesserung der Affektwahrnehmung und der Affekttoleranz empfehlenswert. Bei komplexen dissoziativen Störungen (pDIS, DIS) müssen störungsspezifische Therapietechniken angewendet werden, welche die dissoziativen Barrieren systematisch verringern.
Begleiterkrankungen
Bei 90% der Betroffenen sind psychische Begleiterkrankungen vorzufinden. Zu den häufigsten Begleiterkrankungen gehören:
- Andere dissoziative Störungen
- Somatoforme Störungen
- Depression
- Angststörungen
- Persönlichkeitsstörungen
- Posttraumatische Belastungsstörungen
So kannst du jemandem helfen, der einen dissoziativen Krampfanfall hat
- Sorge für Sicherheit, entferne z.B. gefährliche Gegenstände aus dem Umfeld und lege dem Betroffenen etwas Weiches unter den Kopf.
- Halte den Betroffenen nicht fest. Dies kann zu Verletzungen und zur Verlängerung des dissoziativen Anfalls führen.
- Spreche ruhig und freundlich mit dem Betroffenen. Deine Worte können beruhigend wirken und den Anfall verkürzen.
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