Komplexe posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS / KPTBS)

Komplexe PTBS

Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (auch komplexe PTBS oder KPTBS) ist eine psychische Erkrankung, die sich in der Regel aufgrund von schweren oder wiederholten bzw. langanhaltenden Traumatisierungen in der Kindheit entwickeln kann.

Krankheitsbild komplexe posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS)

Die amerikanische Psychiaterin Judith Herman war die erste, die den Begriff „komplexe PTBS“ für die auftretenden Störungen durch chronische Traumatisierungen vorgeschlagen hatte. Sie verwendete auch den Begriff „DESNOS“ (Disorders of Extreme Stress Not Otherwise Speficied). Sie beschrieb, dass chronische Traumatisierungen in der Kindheit zu Veränderungen in den folgenden sechs Funktionsbereichen führen können:

  • Regulation von Affekten und Impulsen
  • Aufmerksamkeit oder Bewusstsein
  • Selbstwahrnehmung
  • Beziehung zu anderen
  • Somatisierung
  • Persönliche Bedeutungssysteme

Die komplexe PTBS ist in der ICD-10 und im DSM-5 nicht definiert

Die komplexe PTBS geht weit über das hinaus, was in der ICD-10 als PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) definiert ist. Weder in der ICD-10 noch im DSM-5 ist die komplexe PTBS als eigenständige Erkrankung / Störung definiert. Aus diesem Grund müssen Ärzte und Therapeuten die zugehörigen Symptome einzeln kodieren, als wären es unterschiedliche Störungen.

Die Tatsache, dass die komplexe PTBS in der ICD-10 und im DSM-5 nicht definiert ist, hat oftmals weitreichende Konsequenzen für die Betroffenen. Eine Therapie, die sich auf die einzelnen Symptome beschränkt (z.B. Depression, Angststörungen, oder die nicht komplexe PTBS) wird den Betroffenen nicht gerecht und führt nicht selten zu keinen oder nur geringfügigen Verbesserungen der Lebensqualität.

Entwicklungen in der ICD-11 und im DSM-5

In den vergangenen Jahren wurde versucht, die Diagnosekategorie der komplexen PTBS präziser zu definieren und empirisch zu validieren. In diesem Kontext hat sich eine Forschergruppe gebildet, die einen Vorschlag für die Definition der komplexen PTBS erarbeitet, welcher als Diagnosekategorie in die ICD-11 eingehen soll. In diesem Vorschlag ist für das Vorliegen einer komplexen PTBS zusätzlich zu den Symptomen der klassischen PTBS das Vorhandensein von Symptomen aus den Bereichen Affekt, negatives Selbstkonzept und Probleme der interpersonellen Beziehungsgestaltung erforderlich (siehe Kapitel Symptome).

Im amerikanischen DSM-5 wurden die Kriterien der PTBS dahingehend erweitert, dass auch Symptome aus den Bereichen der Emotionsregulierung und der interpersonellen Regulation eingeschlossen wurden. Damit sind zwar nicht alle Phänomene, welche im Zusammenhang einer komplexen PTBS auftreten können, abgebildet. Die Erweiterung stellt jedoch einen Fortschritt im Vergleich zum DSM-4 dar.

Symptome

Die komplexe PTBS kann sich recht vielfältig in der Symptomatik darstellen. Zusätzlich zu den Symptomen der klassischen PTBS bestehen weitere Symptome in den Bereichen Affekt, negatives Selbstkonzept und interpersonelle Probleme. Im Folgenden sind die Symptome der komplexen PTBS im Detail dargestellt.

Symptome der klassischen PTBS

Intrusives Wiedererleben

Intrusives Wiedererleben äußert sich in Form von sich aufdrängenden, belastenden Erinnerungen an das Trauma in Form von Flashbacks oder Albträumen. Betroffene haben dabei das Gefühl, die traumatische Situation nochmals zu durchleben.

Vermeidungsverhalten

Traumatisierte neigen dazu, alles, was sie an das Trauma erinnert, zu vermeiden. Dieses können zum Beispiel Aktivitäten, Situationen oder Orte sein. Die Vermeidung ist auf lange Sicht kontraproduktiv, da sich die Symptome der PTBS verfestigen.

Übererregung

Nach einem Trauma befinden sich Betroffene oft in einem Zustand ständiger und überhöhter Wachsamkeit (auch Hypervigilanz genannt). Dies äußert sich häufig in Form von Ängsten, übermäßiger Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen.

Zusätzliche Symptome der komplexen PTBS

Bei einer komplexen PTBS treten zusätzlich zu den Symptomen der klassischen PTBS weitere Symptome in den Bereichen Affekt, negatives Selbstkonzept und interpersonelle Probleme auf. Im Folgenden sind die möglichen zusätzlich auftretenden Symptome der komplexen PTBS dargestellt. Für das Vorhandensein einer komplexen PTBS muss aus jedem der drei Bereiche (A-C) mindestens ein Kriterium erfüllt sein.

(A) Affekt

(A1) Störungen der Emotionsregulierung

– Erhöhte emotionale Reaktivität
– Gewaltsame Emotionsausbrüche
– Rücksichtsloses oder selbstschädigendes Verhalten
– Tendenz zu längeren dissoziativen Zuständen unter Stress (siehe Symptome dissoziativer Störungen)

(A2) Emotionale Betäubung

(A3) Verminderte Fähigkeit, positive Emotionen zu erleben

(B) Negatives Selbstkonzept

(B1) Anhaltende Überzeugung, als Person minderwertig, machtlos und/oder wertlos zu sein

(B2) Tiefgreifende Schuld- und Schamgefühle

(C) Interpersonelle Probleme

(C1) Anhaltende Schwierigkeiten, emotionale Beziehungen aufrecht zu erhalten

(C2) Vermeidung von Beziehungen und sozialem Engagement oder geringes Interesse daran

Diagnose

In der ICD-10 und im DSM-5 gibt es noch keine Diagnosekategorie zur komplexen PTBS. Aus diesem Grund müssen die Symptome heute einzeln wie separate Erkrankungen diagnostiziert werden.

Für die ICD-11 existiert das oben beschriebene Konzept (sh. Symptome), das mit großer Wahrscheinlichkeit Anwendung finden wird.

Häufigkeit

In der Langzeitstudie „Adverse Childhood Experiences“ wurden mehr als 17.000 Erwachsene der US-amerikanischen Bevölkerung bzgl. vorliegenden Kindheitstraumata befragt. In etwa zwei Drittel der befragen Personen gaben an, mindestens ein Kindheitstrauma erlebt zu haben (siehe Beitrag ACE-Studie: Wie Kindheitstraumata Gesundheit und Verhalten ein Leben lang beeinflussen).

Es liegen einige Studien zur Häufigkeit der komplexen PTBS vor, welche auf Basis der von Herman definierten DESNOS-Kriterien durchgeführt wurden. Bei Frauen, die sexuellen Missbrauch oder körperliche Misshandlung in der Kindheit erlebt haben, beträgt die Häufigkeit 50% (Roth et al., 1997). Bei Folteropfern wurde eine Häufigkeit von 66% festgestellt (Teegen und Vogt, 2002).

Ursachen

Die Ursache für die komplexe PTBS sind in der Regel schwere oder wiederholte bzw. langanhaltende Traumatisierungen in der Kindheit. Zu diesen gehören zum Beispiel körperliche und psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch sowie körperliche und emotionale Vernachlässigung.

Eine komplexe PTBS kann auch bei Traumatisierungen im Erwachsenenalter auftreten, bspw. als Folge von Kriegserlebnissen, Flucht und Folter.

Differenzialdiagnostik

Bei der Diagnose der komplexen PTBS sind folgende Störungen differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen:

Psychotische Störungen

Wenn eine schwere dissoziative Symptomatik vorliegt, insbesondere, wenn akustische Halluzinationen vorhanden sind, sollten psychotische Störungen als Differenzialdiagnosen in Betracht gezogen werden.

Ist die Realitätsprüfung erhalten, d.h. kann der Betroffene Wirklichkeit von Unwirklichkeit unterscheiden, dann ist eine vorliegende dissoziative Störung im Rahmen einer komplexen PTBS wahrscheinlicher als eine psychotische Störung. Betroffene von dissoziativen Störungen wissen sehr wohl, dass Außenstehende die Stimmen nicht hören, sondern nur sie selbst.

Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung

Die Differenzialdiagnose zur andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) stellt ein heiß umstrittenes Thema dar, vor allem, weil für die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung eine Diagnosekategorie in der ICD-10 besteht, für die komplexe PTBS hingegen nicht.

Die Symptome der komplexen PTBS und der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung weisen eine große Überschneidung auf. Aus diesem Grund ist eine Abgrenzung der beiden Störungen auf Basis der Symptomatik schwierig. Gemäß Definition entsteht die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung nach kumulativen personellen Traumatisierungen im Erwachsenenalter. Die Ursachen der komplexen PTBS hingegen sind häufig Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend.

Die Trauma-Expertin Prof. Dr. Luise Reddemann schlägt vor, anstelle der Diagnose der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung die Diagnose der komplexen PTBS zu stellen, nicht zuletzt deshalb, weil bei der komplexen PTBS bewährte therapeutische Konzepte vorliegen, was bei der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung nicht der Fall ist.

Therapie

Die Störungsbilder der komplexen PTBS sind sehr vielfältig und individuell. Aus diesem Grund sollte das Therapiekonzept auf jeden Betroffenen maßgeschneidert sein. Die Therapie sollte dabei nicht nur auf die bloße Reduzierung der Symptome abzielen, sondern auch den Aufbau von Selbstregulationsfähigkeiten und Ressourcen zum Ziel haben.

Therapiemethoden

Zur Behandlung der komplexen PTBS haben sich zahlreiche Therapiemethoden und Therapietechniken bewährt. Hierzu zählen zum Beispiel die folgenden:

  • Ego-State-Therapie
  • EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing)
  • Gestalttherapie
  • PITT (Psychodynamisch Imaginative Trauma Therapie)
  • DBT (Dialektisch Behaviorale Therapie)
  • Somatic Experiencing (SE)
  • Kognitive Verhaltenstherapie

Behandlungsleitlinien der ISTSS

Die Arbeitsgruppe „Complex Trauma Task Force“ der International Society of Traumatic Stress Studies (ISTSS) hat auf Basis der relevanten Literatur und eines Expertenkonsensus Behandlungsleitlinien für die Behandlung der komplexen PTBS bei Erwachsenen erarbeitet. Diese sollten Grundlage jeder Therapie sein.

Die Behandlungsleitlinie empfiehlt ein phasenorientiertes Vorgehen, das aus den drei Phasen Stabilisierung (1), Traumakonfrontation (2) und Neuorientierung (3) besteht. Im Folgenden sind die drei Phasen im Detail erläutert.

Phase 1: Stabilisierung

In der ersten Phase der Traumatherapie, der Stabilisierungsphase, sollen Betroffene soweit „gestärkt“ werden, dass sie bereit sind, sich in der anschließenden Phase mit den traumatischen Erinnerungen konfrontieren zu können.

Folgende Ziele sollen in der Stabilisierungsphase verfolgt werden:

  • Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung: Am Anfang der Therapie sollte der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung im Vordergrund stehen. Sie ist Grundvoraussetzung dafür, dass eine Traumatherapie erfolgreich durchgeführt werden kann.
  • Psychoedukation: Betroffene sollen über das Störungsbild der komplexen PTBS und deren Auswirkungen, insbesondere auf die persönliche Entwicklung, den Lebensverlauf, die Weltanschauung und Beziehungen aufgeklärt werden.
  • Äußere Sicherheit: Befinden sich Traumatisierte weiterhin in einem bedrohlichen Umfeld, müssen gemeinsam Strategien erarbeitet werden, sich von diesem Umfeld zu lösen. Nur, wenn der Betroffene sich in Sicherheit fühlt, ist eine Traumaverarbeitung überhaupt möglich. Betroffene sollen darin bestärkt werden, ein unterstützendes soziales Umfeld aufzubauen (z.B. Freunde, Selbsthilfegruppen).
  • Stärkung der Emotionswahrnehmung und -regulierung: Betroffene sollen lernen, ihre Gefühle klarer wahrzunehmen und besser regulieren zu können.
  • Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes: Viele komplex Traumatisierte haben ein negatives Selbstbild. In der Stabilisierungsphase gilt es, dieses sukzessive in ein positives Selbstkonzept umzuwandeln.
  • Meditation und Achtsamkeit: Meditation und Achtsamkeit können den Therapieprozess deutlich unterstützen. Sie sind jedoch nicht alleine ausreichend für eine Therapie.

Phase 2: Traumakonfrontation

Die zweite Phase zielt auf das bewusste Wiedererleben und die Neubewertung der traumatischen Erlebnisse ab. Durch das Wiedererleben des Traumas im Rahmen einer sicheren Umgebung (der Therapie), können traumatische Erlebnisse neu bewertet und in die Biografie integriert werden. Ziel ist es, dass die traumatischen Erinnerungen nicht mehr überflutend wirken, sondern als „normale“ Erinnerungen im biografischen Gedächtnis abgespeichert werden.

Wirkt die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen zu belastend, so ist es ratsam, immer wieder zur ersten Phase, der Stabilisierung, zurückzukehren, damit der Betroffene die für die Traumakonfrontation erforderliche Stabilität beibehält.

Phase 3: Neuorientierung

Die dritte Phase stellt den Übergang von der Therapie in das „Leben nach dem Trauma“ dar. Gegebenenfalls auftretende Sinnfragen werden geklärt und die Betroffenen dabei unterstützt, sich neu im Leben zu orientieren. Hierzu gehören zum Beispiel Pläne über Ausbildung, Beruf, Freizeit, Hobbys, soziale Aktivitäten und Beziehungen.

Begleiterkrankungen

Bezogen auf die klassische posttraumatische Belastungsstörung wurden die Begleiterkrankungen umfangreich untersucht. Laut dem National Comorbidity Survey aus den USA erfüllen 88% der Männer und 79% der Frauen mit PTBS die Diagnosekriterien mindestens einer weiteren psychiatrischen Störung.

Eine vorliegende depressive Episode wurde beispielsweise bei 48% der Männer und 49% der Frauen festgestellt. Gleichzeitiger Alkoholmissbrauch besteht bei 52% der Männer und 14% der Frauen, Drogenmissbrauch bei 35% der Männer und 8% der Frauen. Darüber hinaus treten oftmals auch Angststörungen auf. Hierzu gehören einfache Phobien (31% bei Männern, 15% bei Frauen), generalisierte Angststörungen (17% bei Männern, 8% bei Frauen) sowie die Agoraphobie (16% bei Männern, 8% bei Frauen).

Gemäß dem Canadian Community Health Survey besteht auch ein Zusammenhang zwischen PTBS und Rückenschmerzen und Fibromyalgie. Bei Personen mit PTBS beträgt die Häufigkeit gleichzeitig vorliegender Rückenschmerzen 46%. Bei gleichzeitig vorhandener Fibromyalgie beträgt die Häufigkeit 8%.


Traumatherapie München - Traumatherapie-Praxis Stephan Stahlschmidt

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